Es ist ein deutsches Phänomen und trifft vor allem auf die sogenannten „Besserwisser“ zu: das ständige moralische Dagegenreden. Kaum jemandem gelingt es, ohne eine Spur von Arroganz auszudrücken, dass er besser weiß, was richtig und was falsch ist. Aber wie kommt es, dass Deutsche so gerne moralische Besserwisser sind?
In einem TV-Interview von Markus Lanz rechnete CDU-Politiker Wolfgang Schäuble mit Deutschlands in der Energiepolitik und dem Hang zur moralischen Missionierung ab. Er sprach auch über den Putschversuch gegen Angela Merkel während der Migrationskrise 2015.
In Herbst 2015 herrschte Unruhe in den deutschen Sicherheitsbehörden und auch im Parlament und der Großen Koalition. Angela Merkels Politik der offenen Grenzen stand zur Disposition, wie später bekannt wurde. Sogar die schwarz-rote Bundesregierung war kurz davor, die Grenzen zu schließen. Doch die Kanzlerin und ihr Innenminister wollten keine Verantwortung für die Rechtssicherheit dieser Entscheidung übernehmen und wollten auch hässliche Szenen an Deutschlands Grenzen vermeiden.
Es war eine schwierige Zeit. Tausende Menschen kamen jeden Tag unkontrolliert nach Deutschland – und damit auch Unruhe in die Gesellschaft. Auch Merkel selbst stand unter Druck. Einflussreiche Politiker aus den Reihen der CDU suchten Kontakt zu Wolfgang Schäuble, dem Urgestein und Parteigranden, um ihn für einen Putschversuch gewinnen zu könnnen.
„Und ich habe gesagt: Ich mache das nicht“, sagte Schäuble in dem Interview bei Lanz. Dies ist sicherlich das brisanteste Detail seines Auftritts und bestätigt sowohl sein Image als äußerst loyaler Parteisoldat als auch einen Putschversuch gegen Angela Merkel.
Es ist ein Rekord, den nicht zuletzt der Mann schaffte, der wegen des CDU-Spendenskandals nie Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers oder Bundespräsident werden konnte. Im Dezember 1972 zog er zum ersten Mal ins Parlament ein – im Alter von 30 Jahren. Seitdem bestimmte Schäuble ununterbrochen die Geschicke der Politik in Deutschland. 50 Jahre – länger war keiner Mitglied eines nationalen Parlaments in Deutschland.
Schäuble sprach auch darüber, dass die Deutschen sich manchmal nicht an das halten, was sie anderen gerne diktieren, und manchmal blind und taub sind für Warnungen. Er erwähnte auch die „One-Love-Binde“ bei der Fußball-WM und die Beziehungen zu Katar. „Wir brauchen die Partnerschaft mit Katar. Wir müssen Gas aus Katar beziehen“, sagte Schäuble. In diesem Zusammenhang wirke das Theater um Menschenrechts-Symbole „irgendwie nicht so richtig glaubwürdig. Es passt nicht zusammen“. Wolfgang Schäuble äußert sich klar zur deutschen Energiepolitik. In dem Interview bei Lanz sagte er, dass Nord Stream 1 „wahrscheinlich schon nicht besonders klug“ war, aber Nord Stream 2 ein „ganz schwerer Fehler“ war, „gegen die anderen Europäer und gegen die Amerikaner“. Schäuble zeichnete auch ein Bild der politischen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland, indem er sagte: “In der moralischen Besserwisserei sind wir Weltspitze – ansonsten wird es offenbar schwieriger”.
Was treibt Deutschland in der Energiepolitik an? Laut Schäuble führt es dazu, dass „alle anderen in Europa sagen: ‚Seid ihr eigentlich wahnsinnig?‘“ Nicht nur wegen der russischen Gas-Pipelines, sondern vor allem in Bezug auf den Atomausstieg inmitten einer „fürchterlichen Energiekrise“. „Wir machen auch da schon wieder einen Alleingang in Europa“, sagte er. Sollte es da nicht eine bessere Lösung geben? Können wir nicht noch länger auf die vorhandenen Kernkraftwerke bauen? Der Energiekrise zu trotzen, bedarf es unbedingt einer zukunftsweisenden Entscheidung – und zwar JETZT!
Schäubles Kommentare zeigen deutlich, dass Deutschland sich manchmal nicht an das hält, was es anderen gerne diktieren würde und manchmal blind und taub für Warnungen ist. Seine Äußerungen zur „One-Love-Binde“ bei der Fußball-WM und zu den Beziehungen zu Katar zeigen auch, dass Deutschland gezwungen ist, Partnerschaften zu pflegen, auch wenn sie mit seinen eigenen moralischen Werten in Konflikt stehen. Obwohl Deutschland in der moralischen Besserwisserei Weltspitze ist, wird es offenbar immer schwieriger, diese Werte auch in der Praxis umzusetzen.
(Foto: Von Michael von der Lohe – File:Tag_für_die_Demokratie_(49141018653).jpg, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=111712558)