7000 Jahre Winterschlaf.

 

Wie Forscher uralte Algen aus der Ostsee wiederbelebten

Was nach Science-Fiction klingt, ist tatsächlich wissenschaftliche Realität: Forscherinnen und Forscher des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung in Warnemünde haben lebendige Zellen einer Algenart zurückgeholt – und das nach rund 7000 Jahren im Tiefschlaf.

Eine Reise in die Vergangenheit der Meere

Im Jahr 2021 entnahmen Wissenschaftler Sedimentproben aus 240 Metern Tiefe östlich der schwedischen Insel Gotland. Die Bohrkerne stammten aus einem Bereich der Ostsee, in dem sich über Jahrtausende organisches Material abgelagert hat – darunter auch mikroskopisch kleine Kieselalgen der Art Skeletonema marinoi.

Diese Algen gehören zum sogenannten Phytoplankton, also zu jenen winzigen, aber immens wichtigen Organismen, die Sauerstoff produzieren und das Fundament mariner Nahrungsketten bilden. Unter normalen Umständen treiben sie im Wasser, betreiben Fotosynthese und teilen sich. Doch unter ungünstigen Umweltbedingungen haben sie eine bemerkenswerte Strategie entwickelt: Sie bilden stabile Dauerstadien, stellen ihren Stoffwechsel nahezu vollständig ein und sinken auf den Meeresboden, wo sie durch Sedimente luftdicht eingeschlossen werden.

Wiederbelebt im Labor

Das Forschungsteam um Sarah Bolius hatte sich zum Ziel gesetzt, diese uralten Algen aus dem „Schlaf“ zu holen. In kontrollierten Laborbedingungen – mit Licht und Nährstoffen – gelang es, aus neun verschiedenen Sedimentproben lebende Zellen zu reaktivieren. Dabei war Skeletonema marinoi die einzige Art, die sich in allen Proben zurückmeldete: Die Algen begannen wieder zu wachsen, teilten sich und betrieben Photosynthese – genau wie ihre modernen Verwandten in der heutigen Ostsee.

Die älteste erfolgreiche Wiederbelebung stammt aus einer Probe, die auf ein Alter von rund 6871 Jahren datiert wurde. Damit gehören diese Zellen zu den ältesten jemals aktivierten Organismen, die zuvor so lange in einem inaktiven Zustand überdauert haben.

Ein Fenster in die Evolution

Der wissenschaftliche Durchbruch liegt jedoch nicht nur in der spektakulären Wiederbelebung. Die Forscher sehen darin auch eine einzigartige Möglichkeit, evolutionäre Entwicklungen live nachzuvollziehen. Denn während Fossilien oder genetische Überreste meist nur bruchstückhafte Informationen liefern, lassen sich an lebenden Algenstämmen direkte genetische Vergleiche mit heutigen Populationen anstellen. So können Veränderungen über Jahrtausende hinweg untersucht werden – beispielsweise, wie sich bestimmte Umweltfaktoren oder Klimaveränderungen auf genetische Strukturen ausgewirkt haben.

Warum diese Entdeckung so wichtig ist

Kieselalgen wie Skeletonema marinoi spielen eine zentrale Rolle im Ökosystem Meer. Sie produzieren einen erheblichen Teil des globalen Sauerstoffs und sind Nahrungsgrundlage für viele marine Lebewesen. Dass solche Organismen so lange überleben und wieder aktiv werden können, zeigt nicht nur ihre enorme Widerstandskraft, sondern eröffnet auch neue Perspektiven für die Meeresforschung, die Evolutionsbiologie und vielleicht sogar die Astrobiologie.

Denn wenn Leben in der Dunkelheit, ohne Sauerstoff und über Jahrtausende hinweg überdauern kann – warum dann nicht auch unter Extrembedingungen auf anderen Planeten?

Die Wiederbelebung der 7000 Jahre alten Algen aus der Ostsee ist ein spektakulärer Beweis für die Überlebensstrategien einfacher Lebewesen – und ein Meilenstein für die Forschung. Sie erinnert uns daran, dass selbst mikroskopisch kleine Organismen eine enorme Geschichte in sich tragen – und vielleicht auch Antworten auf große Fragen der Wissenschaft bereithalten.