In einer bemerkenswerten Studie haben Forscherinnen der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns herausgefunden, dass die Zahnentwicklung heutiger Bären nicht dem typischen Muster der meisten Säugetiere folgt. Die Ursprünge dieser Abweichung sind tief in der Evolutionsgeschichte der Bären verwurzelt und lassen sich bis zu mehreren Millionen Jahren zurückverfolgen. Die Ergebnisse ihrer Forschung wurden in der renommierten Fachzeitschrift „Boreas“ veröffentlicht.
Die Vielfalt der Zähne bei Säugetieren ist beeindruckend und entwickelte sich über einen Zeitraum von fast 225 Millionen Jahren. Ein Schlüsselkonzept, um die Zahnentwicklung bei diesen Tieren zu verstehen, ist das „Inhibitory Cascade Model“ (ICM). Dieses Modell beschreibt, wie das Wachstum von Backenzähnen im Unterkiefer von den vorderen Zähnen beeinflusst wird. Bei den meisten Säugetieren ist es so, dass die Größe des ersten Backenzahns die Größe aller nachfolgenden Zähne bestimmt. Moleküle im Gebiss der Tiere wirken dabei hemmend oder aktivierend auf das Zahnwachstum, was zu einem einheitlichen Muster führt. So haben fleischfressende Säugetiere typischerweise einen größeren ersten Backenzahn im Vergleich zum dritten, während bei Pflanzenfressern das Gegenteil der Fall ist.
Im Gegensatz zu diesem Muster zeigen die heutigen Bären eine bemerkenswerte Abweichung: Bei nahezu allen Arten, unabhängig von ihrer Ernährung, ist der zweite Backenzahn der größte. Um die Ursachen für dieses Phänomen zu untersuchen, haben PD Dr. Anneke van Heteren und ihre Doktorandin Stefanie Luft die evolutionären Wurzeln der Bären genauer beleuchtet. Sie entdeckten zwei entscheidende Phasen in der Bärenevolution, in denen sich die Zahnentwicklung von dem gängigen Muster abwandte.
Für ihre Untersuchung verglichen die Wissenschaftlerinnen Kiefer von fossilen und modernen Bären mit den Vorhersagen des ICM-Modells und gingen dabei bis zu 13 Millionen Jahre in der Zeit zurück. Der erste signifikante Einschnitt in der Zahnentwicklung wurde vor etwa 3,6 Millionen Jahren festgestellt, als sich der zweite Backenzahn des Ursus minimus, dem mutmaßlichen gemeinsamen Vorfahren der meisten heute lebenden Bären, unverhältnismäßig vergrößerte. Ein zweiter Einschnitt fand zwischen 1,25 und 0,7 Millionen Jahren statt, als beim frühen Höhlenbären Ursus deningeri der dritte Backenzahn größer wurde, als es das ICM-Modell vorhersagt.
Die Forscherinnen stellen fest, dass diese Veränderungen wahrscheinlich mit einem Ungleichgewicht der Stoffe zusammenhängen, die das Wachstum der verschiedenen Backenzähne regulieren. Diese Stoffwechselveränderungen scheinen mit den Anpassungen der Bären an ihre Ernährung im Laufe der Evolution korreliert zu sein. Der Übergang von rein fleischfressenden zu omnivoren oder sogar herbivoren Ernährungsweisen hat die Zahnentwicklung der Bären beeinflusst, ohne jedoch das ICM-Muster zu befolgen. Heutige Bären variieren in ihrer Ernährung von rein fleischfressend bis hin zu rein pflanzenfressend, wobei die meisten Arten als Allesfresser klassifiziert werden.
Die beiden identifizierten Brüche in der Zahnentwicklung lassen sich auch im Kontext von Umweltveränderungen während der Bärenevolution betrachten. Der erste Bruch zwischen dem frühen und späten Pliozän fällt mit Klimaveränderungen zusammen, die den Lebensraum von subtropischen Feuchtwäldern hin zu offenen Landschaften wie Buschland und Steppen verlagerten. Der zweite Bruch, der zwischen dem späten Pliozän und dem mittleren Pleistozän auftritt, korreliert mit der Entstehung ausgedehnter Graslandschaften und einem Abkühlen des Klimas.
Diese Forschung liefert nicht nur spannende Einblicke in die evolutionären Anpassungen der Bären, sondern verdeutlicht auch, wie eng die Zahnentwicklung mit den Umweltbedingungen und der Ernährung der Tiere verknüpft ist. Die Erkenntnisse der Forscherinnen tragen zu einem besseren Verständnis der evolutionären Mechanismen bei, die die Diversität der Zahnentwicklung bei Säugetieren geprägt haben.
