Ein internationales Team von Wissenschaftlern unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) hat bedeutende Fortschritte im Verständnis der Evolution von Zentromertypen erzielt. In einer kürzlich veröffentlichten Studie in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ wird erstmals aufgezeigt, wie verschiedene Zentromertypen bei Lilienarten entstanden sind und welche evolutionären Mechanismen dabei eine Rolle spielen.
Zentromere sind essentielle Strukturen in den Chromosomen, die während der Zellteilung den Transport und die korrekte Verteilung der genetischen Information gewährleisten. In der Natur haben die meisten Pflanzen und Tiere Chromosomen mit einem einzelnen, zentralen Zentromer, auch als Monozentromer bekannt. Es gibt allerdings auch eine Vielzahl von Organismen, darunter etwa 350.000 Arten wie Fadenwürmer und bestimmte Pflanzen, die einen alternativen Zentromertyp, das Holozentromer, aufweisen. Hierbei sind die Zentromere nicht auf einen Punkt beschränkt, sondern über die gesamte Länge des Chromosoms verteilt. Diese Struktur kann vorteilhaft sein, da sie es den Chromosomen ermöglicht, bei Brüchen und strukturellen Veränderungen stabiler zu bleiben.
Trotz der bekannten Existenz dieser unterschiedlichen Zentromertypen war der genaue Mechanismus, der zu ihrer Entstehung führt, lange Zeit unklar. Das Forschungsteam analysierte daher die Genome und die Zentromerstrukturen zweier verwandter Lilienarten: einer monozentrischen Art mit einem großen Zentromer und einer holozentrischen Art. Prof. Dr. Andreas Houben, Leiter der Arbeitsgruppe „Chromosomenstruktur und -funktion“ am IPK, erklärte, dass die Forscher ursprünglich davon ausgegangen waren, dass sich im Laufe der Evolution ein großes Zentromer in einen langen, gestreckten Zentromer verwandelt. Die Ergebnisse der Studie zeigten jedoch, dass das Holozentromer unabhängig von den großen Monozentromeren entstanden ist.
Dr. Yi-Tzu Kuo, die Erstautorin der Studie, erklärte weiter, dass die Evolution der Zentromertypen durch ein komplexes Zusammenspiel von genetischen Mutationen, epigenetischen Veränderungen und der Expansion der zentromeren DNA gefördert wurde. In der Art Chamaelirium luteum entwickelte sich über die Zeit ein großes Zentromer, während bei Chionographis japonica ein langgestrecktes Zentromer entstand. Dabei gelang es dem Forschungsteam, das große Monozentromer von Chamaelirium luteum erstmals präzise zu sequenzieren und zu beschreiben.
Ein bemerkenswerter Aspekt der Studie ist, dass der zentromerische Anteil am gesamten Genom in beiden untersuchten Arten ähnlich ist, mit etwa 15 Prozent, jedoch unterschiedlich verteilt ist. Dies wirft neue Fragen zu den funktionellen und strukturellen Unterschieden zwischen den beiden Zentromertypen auf und erweitert unser Verständnis der Zentromervielfalt. Dr. Pavel Neumann, Mitautor und Forscher an der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, betonte die Bedeutung der Untersuchung nicht-modellorganismischer Arten für evolutionäre Vergleiche und die Entdeckung neuer Erkenntnisse, selbst in gut erforschten Bereichen wie der Zentromerforschung.
Insgesamt stellt diese Studie einen bedeutsamen Schritt in der Erforschung der genetischen Grundlagen der Zentromer-Evolution dar. Sie bietet nicht nur neue Einsichten in die Entstehung und Entwicklung von Zentromertypen, sondern hebt auch die Bedeutung von interdisziplinären Ansätzen in der modernen biologischen Forschung hervor. Die Ergebnisse können möglicherweise weitreichende Implikationen für das Verständnis der Chromosomenstruktur und deren Funktion in einer Vielzahl von Organismen haben.
Das IPK-Forschungsteam plant, diese Erkenntnisse weiter zu vertiefen und die evolutionären Mechanismen hinter der Vielfalt der Zentromertypen in anderen Organismen zu untersuchen. Die Fortschritte in diesem Bereich könnten dazu beitragen, die biologischen Prozesse, die der Zellteilung zugrunde liegen, besser zu verstehen und deren Auswirkungen auf die genetische Stabilität von Organismen zu erforschen.
