
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Daten sollten eigentlich zum Nutzen der Gesellschaft frei zugänglich sein. Ein aktuelles Forschungsprojekt, das von Wissenschaftlern der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) durchgeführt wurde, zeigt jedoch, dass dies nicht immer der Fall ist. In einer Umfrage unter 563 Forschenden aus 64 Ländern wurde ein besorgniserregendes Phänomen festgestellt, das als „Gollum-Effekt“ bezeichnet wird. Dieser Effekt, benannt nach der obsessiven Figur aus J.R.R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“, hat weitreichende negative Konsequenzen für die wissenschaftliche Zusammenarbeit und die Karrieren von Forschenden, insbesondere von weniger etablierten Wissenschaftlern.
Dr. Jose Valdez, Biodiversitätsforscher an der MLU und iDiv, erklärt, dass in der wissenschaftlichen Gemeinschaft oft ein ausgeprägtes Besitzdenken herrscht, das den Austausch von Ideen und Daten behindert. Anstatt offen zu kooperieren, neigen viele Forschende dazu, ihre Ressourcen und Erkenntnisse für sich zu behalten. Dies steht im Widerspruch zu dem Ideal, das die Wissenschaft verfolgt: den Wissensaustausch zum Wohle der Menschheit. Der Gollum-Effekt manifestiert sich in verschiedenen Formen, darunter das Verwehren von Datenzugriffen, das Stehlen von Forschungsideen und sogar die aktive Sabotage von Forschungsprojekten.
Die Umfrage ergab, dass fast die Hälfte der Teilnehmenden angeben, selbst Erfahrungen mit diesem Verhalten gemacht zu haben. Zwei Drittel dieser Personen berichteten, dass sie mehrfach im Laufe ihrer Karriere mit den negativen Auswirkungen des Gollum-Effekts konfrontiert wurden. Die betroffenen Forschenden berichteten von erheblichen psychischen Belastungen, die in manchen Fällen sogar zu medizinischer Behandlung führten. Besonders problematisch ist, dass diese Hindernisse häufig von etablierten Forschern oder sogar von den eigenen Betreuern ausgehen, was die Situation für junge und aufstrebende Wissenschaftler noch schwieriger macht.
Ein weiterer Aspekt ist, dass der Gollum-Effekt nicht nur individuelle Karrieren schädigt, sondern auch den wissenschaftlichen Fortschritt insgesamt gefährdet. Valdez betont, dass die übermäßige Konkurrenz um besetzte Positionen und knappe Ressourcen diesen Effekt noch verstärken. Dies führt dazu, dass viele Forschende, insbesondere solche aus benachteiligten Gruppen, in ihrer Entwicklung gehemmt werden. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass über zwei Drittel der Betroffenen erhebliche Rückschläge in ihrer Karriere erlitten haben. Einige mussten sogar ihre Forschungsprojekte aufgeben oder die Wissenschaft ganz verlassen.
Interessanterweise gab nur ein Drittel der Befragten an, sich aktiv gegen das besitzergreifende Verhalten gewehrt zu haben. Fast 20 Prozent der Teilnehmenden räumten ein, selbst in bestimmten Situationen Gollum-ähnliches Verhalten an den Tag gelegt zu haben, oft ohne es zu beabsichtigen. Diese Erkenntnisse verdeutlichen, dass der Gollum-Effekt ein systematisches Problem innerhalb der akademischen Kultur darstellt, das auf breiter Basis angegangen werden muss.
In der Umfrage hatten die Teilnehmenden auch die Möglichkeit, Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Häufig genannte Ansätze zur Bekämpfung des Gollum-Effekts umfassen die Förderung einer offenen und kooperativen Wissenschaftskultur, die Anerkennung und Belohnung ethischen Verhaltens sowie institutionelle Reformen. Dazu zählen stabilere Finanzierungsmodelle für Nachwuchsforscher, Anreize für Teamarbeit und klare Richtlinien für den Datenaustausch und die Autorenschaft.
Dr. Valdez und sein Team hoffen, dass das Bewusstsein für den Gollum-Effekt geschärft wird und eine Diskussion über die Notwendigkeit einer gerechteren und kooperativeren wissenschaftlichen Praxis angestoßen wird. Indem das Phänomen benannt und erkannt wird, könnte der Weg für eine positive Veränderung in der akademischen Landschaft geebnet werden, die nicht nur das individuelle Wohl der Forschenden, sondern auch den wissenschaftlichen Fortschritt als Ganzes fördert.