
Fischschwärme sind nicht nur ein faszinierendes Naturschauspiel, sondern sie demonstrieren auch bemerkenswerte Fähigkeiten der kollektiven Entscheidungsfindung. Eine neue Studie, die von Wissenschaftlern des Exzellenzclusters „Science of Intelligence“ in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei durchgeführt wurde, zeigt eindrucksvoll, dass große Fischschwärme in der Lage sind, schneller und genauer auf Bedrohungen zu reagieren. Diese Erkenntnisse könnten weitreichende Implikationen für das Verständnis von Gruppenverhalten in der Natur sowie in der Technologie haben.
Die Studie konzentrierte sich auf die Schwefelfische (Poecilia sulphuraria), die in den extremen Bedingungen der heißen, schwefelhaltigen Quellen des Flusses El Azufre in Mexiko leben. Hier sind die Fische ständig den Gefahren von Raubvögeln wie Eisvögeln und Kiskadees ausgesetzt. Ihre Überlebensstrategie ist faszinierend: Wenn ein Schwarm eine potenzielle Bedrohung wahrnimmt, tauchen die Fische synchron ab und erzeugen dabei charakteristische Wellenmuster auf der Wasseroberfläche, ähnlich einer La-Ola-Welle. Diese kollektive Reaktion ist entscheidend, da das Timing und die Genauigkeit der Entscheidung über Leben und Tod entscheiden können.
In der Studie wurden über zweihundert Vorfälle dokumentiert, bei denen die Schwärme sowohl auf echte Angriffe als auch auf harmlose Vogelüberflüge reagierten. Besonders herausfordernd war die Analyse der Reaktionen auf den Kiskadee, dessen Angriffe durch eine kaum sichtbare Berührung des Wassers gekennzeichnet sind, was ihn von harmlosen Bewegungen anderer Vögel kaum unterscheidbar macht. Die Ergebnisse zeigten, dass größere Schwärme signifikant besser darin waren, zwischen echten Bedrohungen und Fehlalarmen zu unterscheiden. Während die Reaktionen auf tatsächliche Angriffe mit der Gruppengröße zunahmen, blieben die Reaktionen auf harmlose Reize konstant. Dies bedeutet, dass größere Schwärme nicht nur sensibler, sondern auch präziser in ihren Entscheidungen sind, was einen echten Fortschritt in der Entscheidungsfindung darstellt.
Korbinian Pacher, einer der Hauptautoren der Studie, betont, dass die Forschung zeigt, wie wichtig die kollektive Intelligenz in der Natur ist. Das Team war daran interessiert, zu untersuchen, ob diese Intelligenz auch unter realen, chaotischen Bedingungen funktioniert. Jens Krause, ein weiterer Autor und Professor für Fischbiologie, ergänzt, dass solche Entscheidungen in Laborumgebungen oft nicht richtig erfasst werden können, da dort die Komplexität und Dynamik der Natur fehlen.
Die Untersuchung stellt die gängige Annahme in Frage, dass schnellere Reaktionen oft mit einer höheren Fehlerquote einhergehen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Schwärme der Schwefelfische nicht nur schneller, sondern auch genauer wurden, je größer sie waren. In den größten Gruppen lag die Erkennungsrate nahezu bei 100 Prozent, was für einen einzelnen Fisch unmöglich wäre.
Ein wichtiges Ergebnis der Studie ist der Hinweis auf einen selbstorganisierten, komplexen Entscheidungsmechanismus in großen Fischschwärmen, der über die herkömmlichen Quorum-Regeln hinausgeht. Pacher vergleicht die Dynamik solcher Schwärme mit einem neuronalen Netzwerk, das in einem Zustand operiert, den die Forscher als „Kritikalität“ bezeichnen. Dieser Zustand optimiert die Informationsverarbeitung in großen Systemen und könnte Parallelen zu menschlichen Gruppen und technologischen Anwendungen aufweisen.
Das Verständnis dieser kollektiven Entscheidungsprozesse könnte nicht nur biologischen, sondern auch technischen Systemen zugutekommen, beispielsweise in der Robotik und bei der Entwicklung von Schwarmintelligenz. Darüber hinaus hilft es, grundlegende Fragen der Evolutionsbiologie zu beantworten, etwa, warum viele Tiere in Gruppen leben.
Zusammenfassend zeigt die Studie, dass Fischschwärme unter natürlichen Bedingungen mehr sind als die Summe ihrer Teile. Sie demonstrieren, wie kollektive Intelligenz in der Natur zum Überleben beiträgt und dabei bessere Entscheidungen ermöglicht. Pacher fasst es treffend zusammen: Diese Fische lösen komplexe Probleme gemeinsam und tun dies besser, als es viele für möglich hielten.