
In einer bemerkenswerten Studie haben Wissenschaftler des Museums für Naturkunde in Berlin das Sozialverhalten der großen Spießblattnase (Vampyrum spectrum), der größten Fledermausart Nord- und Südamerikas, in ihrem natürlichen Lebensraum untersucht. Die Forschung, die in der Region Guanacaste in Costa Rica durchgeführt wurde, bietet faszinierende Einblicke in die komplexen sozialen Strukturen dieser seltenen Art. Die Ergebnisse zeigen, dass diese Fledermäuse ein auffälliges Verhalten beim Teilen von Beute aufweisen, was auf ein hohes Maß an elterlicher Fürsorge und soziale Interaktionen innerhalb ihrer Gruppen hinweist.
Die große Spießblattnase hat eine beeindruckende Flügelspannweite von fast einem Meter und ist bekannt für ihre monogamen Lebensgewohnheiten, die in Familiengruppen leben, bestehend aus einem Elternpaar und ihren Nachkommen. Das Forschungsteam beobachtete die Tiere über einen Zeitraum von mehreren Monaten mithilfe von Wildkameras, die in einem hohlen Baum installiert waren. Diese innovative Methode ermöglichte es den Wissenschaftlern, das Verhalten der Fledermäuse in ihrem natürlichen Umfeld zu dokumentieren.
Eine der aufschlussreichsten Beobachtungen war die Übergabe von Beute, in diesem Fall gefangene Vögel und Nagetiere, an die Nachkommen oder andere Gruppenmitglieder. Dies stellt eine bislang wenig dokumentierte Verhaltensweise bei Fledermäusen dar. Marisa Tietge, die Erstautorin der Studie, erklärte, dass die Übergabe von Beute an die Jungtiere einen entscheidenden Schritt in ihrem Lernprozess darstellt, um sich von der Muttermilch auf feste Nahrung umzustellen. Durch dieses Verhalten können die Jungtiere wichtige Fähigkeiten erlernen, die für die Jagd auf größere Beutetiere notwendig sind.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Studie ist die Vermutung, dass nicht nur die Jungtiere durch die Beuteübergabe versorgt werden, sondern auch laktierende Weibchen, die aufgrund ihrer Mutterrolle möglicherweise nicht in der Lage sind, selbst auf Jagd zu gehen. Diese Art der elterlichen Fürsorge, möglicherweise auch väterlicherseits, ist bei Säugetieren eher selten und verdeutlicht die besonderen sozialen Strukturen, die innerhalb dieser Gruppe bestehen.
Zusätzlich zu den Beuteübergaben dokumentierte das Forschungsteam auch andere soziale Interaktionen, wie Begrüßungsrituale, gemeinsames Spielen, sowie gegenseitiges Putzen und die gemeinsame Futtersuche. Diese Verhaltensweisen deuten auf ein komplexes Sozialverhalten hin, das in starkem Kontrast zu der bisherigen Annahme steht, dass die große Spießblattnase ein einzelgängerischer Jäger sei. Stattdessen scheint es, dass sie gelegentlich gemeinschaftlich auf die Jagd gehen und dass die Jungtiere von den erfahrenen Erwachsenen lernen müssen, bevor sie selbstständig werden.
Die Jungtiere der großen Spießblattnase bleiben außergewöhnlich lange bei ihren Eltern, bis zu zweieinhalb Jahre, was ihnen ermöglicht, in einem geschützten Umfeld wichtige Fähigkeiten zu erlernen. Diese lange Abhängigkeit fördert einen sanften Übergang zur Selbstständigkeit, wobei erfahrene Eltern sie dabei unterstützen.
Die Ergebnisse dieser Studie sind nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern haben auch weitreichende Implikationen für den Schutz dieser gefährdeten Fledermausart. Laut der Weltnaturschutzunion IUCN gilt die große Spießblattnase als „potenziell gefährdet“ und in Costa Rica sogar als vom Aussterben bedroht. Ihre Lebensräume, darunter tropische Trockenwälder, sind stark bedroht. Ein besseres Verständnis ihres Sozialverhaltens kann dazu beitragen, geeignete Schutzmaßnahmen zu entwickeln, um das Überleben dieser faszinierenden Tiere zu sichern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die neue Studie über die große Spießblattnase wichtige Erkenntnisse über die sozialen Strukturen und das Verhalten dieser seltenen Fledermausart liefert. Die Zusammenarbeit mit der Naturschutzorganisation Manzú und der Unterstützung durch die Schutzgebietsstation „Estación Experimental Forestal Horizontes“ in Costa Rica zeigt das Engagement für den Erhalt dieser einzigartigen Tierart und ihrer Lebensräume.