
In einer bahnbrechenden internationalen Studie haben Wissenschaftler:innen unter der Leitung der Harvard University, in Zusammenarbeit mit dem Museum für Naturkunde in Berlin, bedeutende Fortschritte beim Verständnis der evolutionären Entwicklung des menschlichen Beckens gemacht. Die Forschung, deren Ergebnisse kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurden, beleuchtet die entscheidenden anatomischen Veränderungen, die es dem Menschen ermöglichten, auf zwei Beinen zu gehen. Diese Veränderungen sind das Ergebnis eines jahrmillionenlangen Evolutionsprozesses, der das Becken des Menschen grundlegend umgestaltet hat.
Das menschliche Becken unterscheidet sich stark von dem der Menschenaffen, wie Schimpansen und Gorillas, die ein hohes und schmales Becken besitzen, das ideal für das Klettern ist. Im Gegensatz dazu hat der Mensch ein schüsselförmiges Becken entwickelt, das nicht nur als tragende Struktur dient, sondern auch eine entscheidende Rolle beim Gehen und Laufen spielt. Diese Form ermöglicht es den Muskeln, das Gewicht beim Gehen gleichmäßig von einem Bein auf das andere zu verlagern und das Gleichgewicht zu halten.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass es zwei wesentliche Schritte in der evolutionären Entwicklung des Beckens gibt. Der erste Schritt beinhaltete eine 90-Grad-Rotation einer Wachstumsfuge, die dazu führte, dass das menschliche Illium – ein Teil des Beckens – eine breitere Form annahm. Diese Veränderung war entscheidend, da sie die Grundlage für das zweibeinige Gehen bildete. Der zweite Schritt betraf eine signifikante Verzögerung der Verknöcherung des Beckens während der Embryonalentwicklung, die um bis zu 16 Wochen verzögert wurde. Diese Verzögerung sorgte dafür, dass die Form des Beckens während des Wachstums erhalten blieb und die finale Geometrie des Beckens grundlegend verändert wurde.
Die Studie identifizierte über 300 Gene, die auf molekularer Ebene für diese anatomischen Veränderungen verantwortlich sind. Zudem wurde untersucht, wie genetische Defekte, die die Beckenform beeinflussen, in den menschlichen Genen verankert sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Forschung war die Analyse von mehr als 120 embryonalen Gewebeproben von Menschen sowie anderen Primatenarten. Dabei kamen auch historische Proben von pränatalen Schimpansen aus der Sammlung des Museums für Naturkunde in Berlin zum Einsatz. Diese Proben wurden mithilfe moderner histologischer und bildgebender Verfahren, einschließlich CT-Scans, neu ausgewertet und in die Studie integriert.
Die Hauptautorin Dr. Gayani Senevirathne von der Harvard University erklärte, dass die Studie eine umfassende Geschichte darüber erzählt, wie der Mensch zu einem zweibeinigen Wesen wurde. Sie hebt hervor, dass die Kombination von genetischen, entwicklungsbiologischen und paläontologischen Ansätzen zur Entschlüsselung großer evolutionärer Veränderungen beiträgt. Die Forschung zeigt auch die immense Bedeutung naturkundlicher Sammlungen für die Wissenschaft, da sie oft historische Materialien enthalten, die neue Erkenntnisse über grundlegende Fragen der Evolution ermöglichen.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die erste bedeutende Veränderung – die Rotation der Wachstumsfuge – bereits vor fünf bis acht Millionen Jahren stattfand, zu einer Zeit, als sich die menschliche Linie von den afrikanischen Menschenaffen abspaltete. Mit der evolutionären Zunahme der Gehirngröße in der menschlichen Linie entstand ein weiterer entscheidender Faktor: der Kompromiss zwischen der Notwendigkeit eines schmalen Beckens für effizientes Laufen und der Notwendigkeit eines breiten Beckens für die Geburt von Nachkommen mit größeren Köpfen. Die Studie legt nahe, dass die zweite Veränderung, die Verzögerung der Verknöcherung des Beckens, in den letzten zwei Millionen Jahren stattfand.
Insgesamt verdeutlicht diese umfassende Studie, wie entscheidend interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Integration verschiedener Forschungstechniken sind, um die komplexen Prozesse der Evolution zu verstehen. Sie zeigt auch, wie wertvoll naturkundliche Sammlungen sind, da sie wichtige Daten und Materialien bereitstellen, die für bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse unerlässlich sind.