
Wissenschaftler der Universitäten Tübingen und Arizona haben in einer aktuellen Studie die weit verbreitete Annahme in Frage gestellt, dass eine bedeutende Steinwerkzeugkultur, die vor rund 42.000 Jahren in Europa entstand, durch Migration aus dem Nahen Osten geprägt wurde. Die Forscher, Dr. Armando Falcucci und Professor Steven Kuhn, führten eine umfassende vergleichende Analyse von Steinwerkzeugen durch, die sowohl aus Italien als auch aus dem Libanon stammen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Technologien zur Herstellung dieser Werkzeuge in Europa eigenständig entwickelt wurden.
Die Rolle des Nahen Ostens in der frühen menschlichen Migration ist seit langem ein zentrales Thema in der Forschung. Historisch wurde angenommen, dass viele technologische Neuerungen, die in Europa auftraten, auf das Wissen von Einwanderern aus dem Nahen Osten zurückzuführen sind. Insbesondere die Protoaurignacien-Kultur in Südeuropa wurde oft als westliche Fortsetzung der Ahmarian-Kultur, die im Nahen Osten existierte, betrachtet. Diese Ansichten basierten auf kulturellen Ähnlichkeiten zwischen den gefundenen Steinwerkzeugen.
In ihrer Studie legten Falcucci und Kuhn den Fokus auf eine quantitative Analyse, um die Herstellungsverfahren der Steinwerkzeuge aus beiden Kulturen systematisch zu vergleichen. Für die Ahmarian-Kultur untersuchten sie eine Vielzahl von Artefakten aus der archäologischen Stätte Ksar Akil, die sich in der Nähe von Beirut befindet. Die Vergleichswerkzeuge des Protoaurignaciens stammen aus drei bedeutenden Fundstellen in Italien: der Grotta di Fumane bei Verona, dem Riparo Bombrini in Ventimiglia und der Grotta di Castelcivita in Salerno.
Die Forscher stellten fest, dass die Steinwerkzeuge zwar auf den ersten Blick ähnliche Merkmale aufwiesen, sich jedoch in der Herstellungsweise erheblich unterschieden. Während beide Kulturen eine Tendenz zur Verkleinerung ihrer Werkzeuge zeigten, um komplexere Geräte zu entwickeln, variierte die Art und Weise, wie die Klingen produziert wurden, stark. Diese Unterschiede deuten darauf hin, dass die europäischen Jäger und Sammler ihre Technologien unabhängig von den Praktiken der Menschen im Nahen Osten entwickelten.
Kuhn und Falcucci betonen, dass die gängige Vorstellung, technologische Innovationen in der Steinzeit seien hauptsächlich durch Migrationen aus dem Nahen Osten in Europa eingeführt worden, einer Neubewertung bedarf. Zunehmend mehr biomolekulare und fossile Beweise zeigen, dass der Homo sapiens bereits vor 60.000 Jahren in Eurasien lebte, während dort auch lokale Populationen wie Neandertaler und Denisova-Menschen existierten. Diese Umstände deuten auf eine komplexe Interaktion zwischen diesen Gruppen hin und lassen vermuten, dass auch kulturelle Austauschprozesse stattfanden, die bei der Rekonstruktion der menschlichen Geschichte berücksichtigt werden müssen.
Die Arbeit von Falcucci und Kuhn trägt zur wachsenden Sammlung wissenschaftlicher Beweise bei, die auf einen nicht-linear verlaufenden Prozess der menschlichen Ausbreitung in Eurasien hindeuten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die kulturellen Einflüsse, die von ausgestorbenen Verwandten wie den Neandertalern und Denisova-Menschen ausgingen, zu würdigen. Diese Erkenntnisse unterstreichen, dass die Geschichte unserer Vorfahren vielschichtiger ist als zuvor angenommen.
Die Studie ist ein weiterer Schritt in der Erforschung der menschlichen Vergangenheit und zeigt, wie wichtig es ist, neue archäologische Funde und Technologien in die Diskussion über unsere kulturelle Entwicklung einzubeziehen. Professorin Dr. Karla Pollmann, Rektorin der Universität Tübingen, hebt hervor, dass es entscheidend ist, die verschiedenen Facetten der menschlichen Geschichte zu verstehen, um ein umfassendes Bild der kulturellen Evolution zu erhalten. Die Ergebnisse dieser Forschung wurden in der renommierten Fachzeitschrift „Journal of Human Evolution“ veröffentlicht und eröffnen neue Perspektiven auf die Entwicklung der Steinwerkzeugtechnologie in Europa und dem Nahen Osten.