Der Kampf der Nichregierungsorganisationen (NGOs) gegen das westliche Lebensmodell

 

(Künstlerische Darstellung des Tübinger Oberbürgermeisters)

Im Zuge einer kontroversen Debatte erhebt Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer schwere Vorwürfe gegenüber der bekannten (NGO)-Fridays-for-Future-Aktivistin und Grünen-Mitglied Luisa Neubauer: Er wirft ihr vor, dass sie den Kampf für den Klimaschutz auf Kosten des alltäglichen Wohlstands ausweitet. Palmer bemängelt, dass sie beinahe sämtliche Bereiche des Lebens, die für die meisten Menschen von Bedeutung sind, in den Mittelpunkt des Klimaschutzes stellt. Der WELT ist es gelungen, Palmers Schreiben an Luisa Neubauer zu veröffentlichen und damit eine kontroverse Diskussion zu entfachen.

Palmer vermutet, dass Neubauers zentrale These, die Überwindung der „Fossilität“ sei die eigentliche Aufgabe im Klimaschutz, auf den bekannten Politiker Hermann Scheer zurückgeht. Scheer habe vehement die großen Energiekonzerne angeprangert und betont, dass erneuerbare Energien nur durch den Kampf gegen die alte Energiewirtschaft durchgesetzt werden könnten.

Allerdings geht Neubauer laut Palmer einen Schritt weiter, der in seinen Augen zu weit geht. Er wirft ihr vor, unnötigerweise einen übermächtigen Gegner zu erschaffen, indem sie nahezu alles, worauf die globale Wirtschaft und Gesellschaft basieren, als Hindernis im Kampf für den Klimaschutz darstellt. Palmer argumentiert, dass der Sieg über Energiekonzerne wie Vattenfall und RWE bereits möglich sei, da sie ohnehin nur noch ein Schatten ihrer selbst seien.

Die Ausweitung des Kampfes für den Klimaschutz auf fast alle Bereiche, die das Leben der Menschen lebenswert machen, erscheint Palmer von vornherein aussichtslos und daher falsch. Er betont jedoch, dass er keinen Grund dafür erkennen kann, warum dies notwendig sein sollte.

Palmer kritisiert auch Neubauers These, dass die Menschen durch Werbung für fossile Produkte verführt werden und ihr Leben danach ausrichten. Er hält diese Sichtweise für zu paternalistisch und verweist darauf, dass dieselben Werbebotschaften auch im Kontext erneuerbarer Energien funktionieren könnten. Seiner Meinung nach hat die Nutzung fossiler Energie der Menschheit nicht nur den Nachteil der langfristigen Erderwärmung gebracht, sondern auch den Menschen aus allgegenwärtiger Not und täglichem Überlebenskampf befreit. Palmer betont, dass ein fossiles Übergangsstadium in der Menschheitsgeschichte unausweichlich war und technologisch vor der Entdeckung erneuerbarer Energiequellen lag.

Der Tübinger Bürgermeister verweist auf das Buch „Factfulness“ von Hans Rosling, in dem dieser beeindruckend darlegt, dass der Eindruck eines konstant wachsenden globalen Elends und eines unausweichlichen Niedergangs der Zivilisation vor allem von den gebildeten Schichten in den entwickelten Ländern wahrgenommen wird. Rosling zeigt auf, welche fantastischen Fortschritte die Weltgemeinschaft in den letzten 50 Jahren bei der Überwindung von Hunger, Seuchen und Kriegen gemacht hat sowie den Ausbau des Bildungssystems und des Gesundheitswesens und die Verbesserung der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs.

Palmer argumentiert, dass all diese Errungenschaften ohne die Nutzung fossiler Energien nicht möglich gewesen wären. Bis heute stammt 90 Prozent des Weltenergiesystems aus fossilen Quellen. Ohne Öl, Kohle und Gas hätten wir kein Klimaproblem, aber der Preis wäre Armut, Krankheit und Elend in großen Teilen der Welt. Palmer betont, dass Milliarden von Menschen, die heute noch leben, in ihrer Kindheit gestorben wären, wenn wir nicht auf fossile Energiequellen zurückgegriffen hätten.

Gefahr der Bildung einer totalitären Gesellschaft

Abschließend warnt Palmer davor, ein einziges Anliegen über alles zu stellen, da dies logischerweise zur Gefahr einer totalitären Gesellschaft führen könne. Er unterstellt Neubauer nicht, totalitäre Absichten zu haben, verweist aber darauf, dass solche Gedanken bereits bei Vertretern der „Letzten Generation“ zu erkennen seien. Palmer fordert vernünftige Abwägungen und die Berücksichtigung von Gütern, die uns selbst entbehrlich erscheinen, um eine gute Zukunft für die Menschheit zu gewährleisten.

Die Kritik an George W. Bush und seiner Ablehnung eines „echten Klimaschutzes“ während des Erdgipfels in Rio im Jahr 1992 findet großen Anklang und bedient bekannte Reflexe. Es scheint jedoch, dass die Realität folgende ist: Die große Mehrheit der Menschen wünscht sich eine größere Teilhabe am amerikanischen Way of Life, da sie bisher nur wenig davon erfahren hat. Für die gesättigte Oberschicht mag Verzicht eine plausible Option sein, doch ein Modell, das sich schnell weltweit verbreiten ließe, ist das sicherlich nicht.

Palmer meint, dass wir einen attraktiven, klimafreundlichen Lebensstil propagieren sollten, der mit der Werbung für schnelle Autos mithalten kann. Leider bleiben konkrete Vorschläge, wie ein solcher Lebensstil aussehen könnte, aus. Vegane Ernährung? Fahrradfahren? Urlaub in der schwäbischen Alb? Sicherlich lassen sich hier und da Nischen finden.

Dennoch müssen wir uns der aktuellen Situation bewusst sein. Es mag stimmen, dass in Tübingen bereits 75 Prozent aller Wege ohne Auto zurückgelegt werden. Dennoch ändert dies nichts an der Tatsache, dass in Deutschland rund 80 Prozent des Verkehrs in Personenkilometern auf den Autoverkehr entfallen. Die Lösung des CO2-Problems durch einen Wechsel des Verkehrsmittels und die Betrachtung des öffentlichen Nahverkehrs mit seinen bescheidenen acht Prozent Verkehrsleistung als Ersatz sind schlicht zum Scheitern verurteilt. Selbst das 9-Euro-Ticket wird daran nichts ändern.

Die Verkehrswende zielt zwar darauf ab, die Lebensqualität in den Städten zu verbessern, jedoch sind die Auswirkungen auf das Klima begrenzt. Um das Klima zu retten, muss eine Energiewende rechtzeitig erfolgen. Ohne Autos wird es absehbar nicht funktionieren, aber ohne Emissionen schon.

Ein Beispiel dafür liefert Hermann Scheer in seinem Buch „Solare Weltwirtschaft“, in dem er eine Zukunft beschreibt, in der der immense Reichtum erneuerbarer Energien ein besseres Leben für alle Menschen ermöglicht. Warum schließen wir uns nicht dieser Vision an, die ohne Verzichts- und Bußrhetorik auskommt?

Gefahr der Deindustrialisierung und Verarmung

Palmer betont, dass unsere Aufgabe nicht darin besteht, die Klimakrise in Deutschland allein durch Verhaltensänderungen und vorübergehenden Verzicht zu bewältigen, wie in einem Artikel der „Zeit“ formuliert wurde. Denn dies würde nicht nur das Ende einer jeden Regierung bedeuten, die ein solches Programm verfolgen würde, sondern im unwahrscheinlichen Erfolgsfall auch zur Deindustrialisierung und Verarmung im eigenen Land führen.

Aufstrebende Wirtschaftsmächte würden mit Freude das übernehmen, was wir aufgeben, und dabei jederzeit höhere Emissionen in Kauf nehmen. Wenn wir das Klima retten wollen, müssen wir einen universalistischen Ansatz wählen und ein Modell entwickeln, das tatsächlich genauso attraktiv ist wie der fossile Lebensstil, nur eben ohne CO2-Emissionen.

Hermann Scheer wusste das. Sein Ziel war einfach: 100 Prozent erneuerbare Energien. Dadurch wäre das Klimaproblem gelöst. Leider haben sich die NGOs mit der Fokussierung auf den Kampf gegen die „Fossilität“ von diesem einfachen, mehrheitsfähigen und kommunizierbaren Ziel entfernt.

Zusätzlich wird durch die NGOs eine neue Gegnerschaft heraufbeschworen, obwohl bereits breite gesellschaftliche Bündnisse im Entstehen waren, die alle relevanten Akteure, einschließlich der Wirtschaft, einbeziehen. Es ist verständlich, dass Verzweiflung, Dringlichkeit und das Anliegen vorhanden sind. Dennoch führt der eingeschlagene Weg der NGOs nach Palmers Erachten in die Irre.

Es wäre effektiver, die realen Hindernisse auf dem Weg zur Umsetzung des Klimaschutzes zu analysieren und zu überwinden, anstatt einen gesellschaftlichen Konflikt zwischen „Fossilität“ und Klimaschutz zu konstruieren. Selbst wenn der Klimaschutz nicht vorrangig über allen anderen Anliegen steht, bleibt er dennoch eine bedeutende Herausforderung unserer Zeit. Um sie zu bewältigen, müssen wir alle einbeziehen, die aktiv an der Lösung mitwirken möchten, auch wenn sie in anderen Fragen wie Migration oder Gendersprache unterschiedliche Standpunkte vertreten.