Kipppunkte im Klimasystem: Wie Forscher mit fragwürdigen Methoden politische Entscheidungen beeinflussen

 


Das Klima kann katastrophal kippen – diese Aussage ist in den letzten Jahren zu einer populären Parole geworden. Doch wie fundiert ist diese Warnung eigentlich? Eine neue Studie zeigt, dass die Warnung vor Kipppunkten auf einem dünnen wissenschaftlichen Fundament steht und dass Forscher Tricks anwenden, um sie in die wissenschaftliche Literatur zu schleusen. Dieser Prozess gibt einen tiefen Einblick in die Art und Weise, wie Wissenschaft zur Politikgestaltung genutzt wird.

Kipppunkte sind kritische Schwellenwerte im Klimasystem, bei deren Überschreitung das System in einen anderen Zustand kippen kann. Ein Beispiel dafür ist das Schmelzen des arktischen Meereises, das zu einem Absinken der Albedo führen kann und damit die Erwärmung des Planeten beschleunigt. Ein weiteres Beispiel ist das Auftauen des Permafrosts, das große Mengen an Treibhausgasen freisetzen kann und damit den Klimawandel weiter anheizt.

Die „Letzte Generation“ plakatiert: „Wir sind die letzte Generation vor den Kipppunkten!“ und Kipppunkte sind mittlerweile das wichtigste Argument der Klimaaktivisten geworden. Diese Punkte werden als Schwellen im Klimasystem beschrieben, die unwiderrufliche und katastrophale Änderungen bringen können. Ein kleiner Kreis von Wissenschaftlern, darunter auch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), hat grundlegende Arbeiten zum Thema verfasst und schürt die Sorge um die Kipppunkte. Doch je näher man sich mit ihnen beschäftigt, desto mehr scheinen sie einer Fata Morgana zu gleichen. Es gestaltet sich schwierig, robuste Warnungen vor Kipppunkten in der wissenschaftlichen Literatur zu verankern. Dennoch gelang es, was zeigt, wie Wissenschaft für politische Zwecke genutzt wird. Johan Rockström, Direktor des PIK, warnte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar vor 16 Kipppunkten, neun davon zeigten „Anzeichen der Instabilität“. Er mahnte, dass sie „die Menschheit zu unterminieren“ drohten.

Im Jahr 2008 veröffentlichte eine Gruppe von renommierten Klimawissenschaftlern, darunter Rockström, der Gründungsdirektor des PIK, Hans Joachim Schellnhuber, und ihr PIK-Kollege Stefan Rahmstorf, sowie der britische Klimaforscher Timothy Lenton, eine Umfrage, die schnell zu einem der meistzitierten Werke der Klimaforschung wurde. Die bahnbrechende Arbeit befasste sich mit Kipppunkten und ist bis heute grundlegend. Tausende von Studien beziehen sich darauf, und es ist die bei weitem einflussreichste Arbeit zu diesem Thema. Die Veröffentlichung im Jahr 2008 machte den Begriff „Tipping Point“ populär und wurde weltweit von den Massenmedien aufgegriffen. Inzwischen verweisen 63 Wikipedia-Artikel auf das Papier.

Jedoch entspricht die bahnbrechende Arbeit und der darauf fußende Wikipedia-Artikel über Kipp-Punkte nicht den Standards einer wissenschaftlichen Studie. Die PIK-Forscher veröffentlichten ihre Studie in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS), der Zeitschrift der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Vereinigten Staaten (NAS). Es handelte sich jedoch nicht um eine von Experten begutachtete Studie, sondern um einen „Eröffnungsartikel“, den neu gewählte NAS-Mitglieder einreichen können, „um sich den PNAS-Lesern vorzustellen“. Schellnhuber wurde im Jahr 2005 in die NAS gewählt, und die Tipping-Points-Studie war seine erste PNAS-Veröffentlichung. PNAS veröffentlichte das Tipping-Points-Papier als „Perspective“. Im Gegensatz zu Studien erfüllen „Perspectives“ schwächere Kriterien: Laut PNAS müssen solche Texte lediglich „ein kritisches wissenschaftliches Problem identifizieren, eine aktuelle Bewertung liefern und neue Erkenntnisse oder einen neuen Lösungsansatz anbieten“.

Doch wie wahrscheinlich ist es, dass solche Kipppunkte tatsächlich eintreten? Eine neue Studie zeigt, dass die Warnung vor Kipppunkten auf einem dünnen wissenschaftlichen Fundament steht. Die Autoren untersuchten die wissenschaftliche Literatur zu Kipppunkten und fanden heraus, dass viele Studien methodische Fehler aufweisen und dass die Beweislage für das Vorhandensein von Kipppunkten oft schwach ist.

Ein Beispiel dafür ist die Warnung vor einem Kipppunkt im Golfstromsystem, der zu einem abrupten Klimawandel in Europa führen könnte. Die Autoren der neuen Studie zeigen, dass diese Warnung auf einer falschen Interpretation von Daten beruht und dass es keine ausreichenden Beweise dafür gibt, dass ein solcher Kipppunkt tatsächlich existiert.

Ein weiteres Beispiel ist die Warnung vor einem Kipppunkt im Amazonas-Regenwald, der zu einer Veränderung des regionalen Klimas und zu einem massiven Freisetzen von Treibhausgasen führen könnte. Die Autoren der neuen Studie zeigen, dass diese Warnung auf einer unzureichenden Modellierung der Wechselwirkungen zwischen Wald und Klima beruht und dass es keine ausreichenden Beweise dafür gibt, dass ein solcher Kipppunkt tatsächlich existiert.

Die Autoren der Studie argumentieren, dass die Warnung vor Kipppunkten oft auf einem selektiven Umgang mit wissenschaftlichen Daten und auf einer übertriebenen Interpretation von Unsicherheiten beruht. Sie zeigen auch, dass viele Studien zu Kipppunkten von Forschern stammen, die eng mit politischen Organisationen und Umweltaktivisten verbunden sind. Dieser Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Politik ist problematisch, da er die Unabhängigkeit und Objektivität der Forschung beeinträchtigen kann.

Die neue Studie zeigt, dass die Warnung vor Kipppunkten ein Beispiel dafür ist, wie mit Wissenschaft Politik gemacht wird. Politiker und Aktivisten nutzen die Warnung vor Kipppunkten, um die Dringlichkeit des Klimawandels zu betonen und um politische Maßnahmen zu fordern. Doch diese Warnung beruht oft auf einem dünnen wissenschaftlichen Fundament und kann zu einer übertriebenen Angst vor dem Klimawandel führen.

Die neue Studie fordert daher eine stärkere wissenschaftliche Überprüfung der Warnung vor Kipppunkten und eine stärkere Trennung zwischen Wissenschaft und Politik. Die Forschung sollte sich auf eine objektive Bewertung der Beweise konzentrieren und politische Entscheidungen sollten auf einer breiteren Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Werten getroffen werden.

Insgesamt zeigt die Studie, dass die Warnung vor Kipppunkten ein Beispiel dafür ist, wie Wissenschaft und Politik miteinander verflochten sind und wie wichtig es ist, die Unabhängigkeit und Objektivität der Forschung zu bewahren. Die Klimapolitik sollte auf einer breiteren Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Werten basieren und nicht auf einer übertriebenen Angst vor Kipppunkten.